Achtsamkeit und Hirnstruktur

Wenn der Ärztliche Direktor der Vitos-Kliniken Gießen-Marburg, Prof. Dr. Michael Franz,die TelefonSeelsorge Gießen/Wetzlar besucht, um über Achtsamkeit zu sprechen, entsteht eine besonders erwartungsvolle Spannung. Der Raum war voll, fast 40 Ehrenamtliche waren der Einladung gefolgt, und sie wurden nicht enttäuscht. Um den Begriff der Achtsamkeit ist im Laufe der letzten Jahre eine Industrie entstanden. Es war für die Teilnehmer wohltuend zu hören, was an dieser Art des Umgangs mit sich und der Welt aus Sicht eines Arztes in einer psychiatrischen, psychosomatischen und psychotherapeutischen Klinik dran ist.

Prof. Dr. Michael Franz (links) und Gerhard Schlett

Prof. Franz gelang es, eine interessante Mischung zu bieten: Wissenschaftliche Studien über die Wirksamkeit von Achtsamkeit und deren Nutzen im ärztlich-therapeutischen Kontext einerseits und ganz praktische Tipps für die TelefonSeelsorge in ihrem besonderen Auftrag andererseits.

Achtsamkeit ist eine Haltung und Übung, die ursprünglich aus dem Buddhismus kommt. Verschiedene buddhistische Schulen übten und perfektionierten die spirituelle Form der Achtsamkeit über die Jahrtausende. In den 1970-er Jahren legte Jon Kabbat Zinn als Gründer der Stress Reduction Clinik in den USA mit der „Mindfulness-Based Stress Reduction” (MBSR) den Grundstein dafür, Achtsamkeitsübungen in den klinischen Kontext einzubringen. Insbesondere bei der Therapie der Borderline-Störung ist hierbei regelmäßig deutlich Erfolg nachweisbar. Aber auch bei vielen anderen psychischen Erkrankungen ist positiver Einfluss in der Therapie nachweisbar.

Achtsamkeit ist nur durch Üben erfahrbar und wirksam. „Da ist das Gehirn wie ein Muskel”, so Prof. Franz in seinem Vortrag. „Dort, wo geübt wird, vergrößert sich dieser Muskel. Üben wir Radfahren, verstärkt sich Radfahrer-Hirnmuskulatur, üben wir Achtsamkeit, bildet sich eben dafür Hirn aus.” Die Wirksamkeit von Achtsamkeits-Üben auf Hirn und Psyche ist wissenschaftlich nachgewiesen.

„Wir reagieren nicht auf das, was wirklich geschieht, sondern auf die Muster, die das Geschehen in uns auslöst.”, so Prof. Franz. Das sei die Krux – keiner sieht mehr so genau hin, was wirklich gerade ist – oder ob es die Gefangenschaft in der eigenen Bewertung ist, in der Menschen gerade feststecken. Achtsamkeit beschreibt die Fähigkeit, sich von der Bewertung zu lösen. Sich von den Mustern zu lösen, von all dem, was Vergangenheit oder Zukunft betrifft. Die Menschen sollten wieder wahrnehmen, was in der Gegenwart wirklich ist. Dabei wird deutlich, warum Üben vonnöten ist. „Radikale Akzeptanz” ist eines der wichtigen Konstrukte.

Speziell für die TelefonSeelsorge erklärte Prof. Franz seine Sicht auf den Unterschied zwischen Mitfühlen und Mitleiden, für TelefonSeelsorger eine fundamentale Fähigkeit. Mitfühlen bedeutet, das Leiden eines anderen emphatisch zu verstehen. Mitleiden würde bedeuten, das Leiden des anderen auf sich zu nehmen und im Kontakt weniger handlungsfähig zu sein.

Prof. Franz wusste zu überraschen mit einigen Fragen in die Runde der begeisterten Teilnehmer. „Wissen Sie, in welchen Ländern am meisten meditiert wird?” Seine Antwort: „In Deutschland und in den USA.” Offenbar ist also Meditieren allein nicht ein Zeichen besonderer Achtsamkeit. Achtsamkeitsübungen können aber beim Meditieren unterstützen. Tatsächlich läßt sich Achtsamkeit aber beim Geschirrspülen ebenso gut üben.

Der Ärztliche Direktor der Vitos-Kliniken informierte zudem über die Einrichtung des Bündnisses gegen Depression auch in Gießen. Er setzt sich dafür ein, dass dieses Bündnis mit Leben und Engagement gefüllt werden kann. Alle Organisationen, die sich mit der Volkserkrankung Depression beschäftigen, sind eingeladen, sich mit einzubringen.

Zum Schluss leitete Prof. Franz die Anwesenden noch an, eine Achtsamkeits- und Güteübung durchzuführen. Er verabschiedete sich mit Hinweisen zu Achtsamkeit im Alltag. „Ob Achtsamkeitsübende Rotwein trinken? – Ja, natürlich. Aber nur, wenn er wirklich schmeckt.”

Fortbildung “Erscheinungsbilder psychischer Störungen”

Die TelefonSeelsorge Gießen-Wetzlar bietet ihren ehrenamtlich Mitarbeitenden mehrfach im Jahr Fortbildungen an. Teilweise handelt es sich dabei um Tagungen über ein ganzes Wochenende. So gelingt intensives gemeinsames Arbeiten an ausgewählten Themen. Ende September beschäftigten sich 16 Ehrenamtliche der TS Gießen-Wetzlar im Schloss Herborn mit “Erscheinungsbildern psychischer Störungen” und der eigenen Rolle am Telefon.

Die beiden psychologischen Psychotherapeuten, die als Referenten für das Wochenende gewonnen werden konnten, Dr. Sara Lucke und Dr. Robert Sielski, brachten einerseits ihre kenntnisreiche Expertise ein. Darüber hinaus lenkten sie aber den Blick immer wieder auf das eigene Empfinden der Mitarbeiter während schwieriger Telefonate.

Dr. Robert Sielski und Dr. Sara Lucke vor dem Schloß Herborn
v.l.n.r.: Dr. Robert Sielski und Dr. Sara Lucke

Ein herausforderndes Telefonat wurde im Rollenspiel exemplarisch geübt: Zwei Mitarbeiter schlüpften in die Rolle von Anrufer und TelefonSeelsorger. Nach dem fiktiven Telefonat wurde gemeinsam untersucht: Welche Gefühle entstehen auf beiden Seiten? Was sind Gefühle überhaupt und welche Funktion erfüllen sie? Wie lassen sie sich regulieren? Und was geschieht, wenn sie nicht reguliert werden? Die Mitarbeiter lernten, dass Gefühle, die sich schlecht anfühlen, deshalb keine “schlechten Gefühle” sind.

Das gespielte Telefonat brachte auch Diskussionen auf über die eigene Rolle als Seelsorger im Feld der TelefonSeelsorge. Was sind meine Pflichten und wo liegen die Grenzen in meinem Tun? Manchmal ist es in der Seelsorge nicht so leicht, die eigenen Grenzen zu akzeptieren, denn der Wunsch zu helfen ist groß. So wurde Akzeptanz zu einem weiteren Schlüsselbegriff der Tagung.

Was Akzeptanz genau ist, lernten die Teilnehmer schließlich auf einer Phantasiereise, in der sie sich vorstellten, mit einem Geländewagen in die Wüste zu fahren. Dabei achteten die Dozenten immer darauf, dass die Teilnehmer auch die Fürsorge für sich selbst in den Blick nahmen. Die methodenreiche Abwechslung von Vortrag, Diskussion, Rollenspiel, Gruppen- und Einzelübungen zu achtsamem Umgang mit sich selbst und anderen machte die Arbeit so kurzweilig, dass die Teilnehmer von den Referenten sogar eine zusätzliche Arbeitseinheit am Samstag erbaten. Diese kamen der Bitte gerne nach.

Erfüllt, angeregt, um einiges klüger und gleichzeitig entlastet, trennte sich die Gruppe am Sonntag, nachdem sich die Teilnehmer ihrer eigenen Stärken vergewissert hatten. Das wundervolle Ambiente des historischen Tagungshauses mit bester Verpflegung war der Sahnetupfer auf der Zufriedenheit aller.

Mehr über die ehrenamtliche Mitarbeit bei der TS …